Nachdenken - Oktober 2019

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„Daher kann ich Ihre erneuten Fragen nicht beantworten und weise nur auf die Selbstverständlichkeit hin, dass Informationen, wie sie im Internet kursieren, nicht unbedingt die ganze Wahrheit darstellen.“

Mit diesem Satz wurde ich konfrontiert, als ich mich neulich mit der Bitte um Klarstellung eines Sachverhalts an eine kirchliche Einrichtung wandte. Die Aussage „arbeitet“ in mir – vor allem im Hinblick auf die Frage, wie unsere Kirche aus der Schieflage kommt, die die Missbrauchsfälle ausgelöst haben.

„Nachvollziehbarkeit und Transparenz entscheiden grundsätzlich mit über die Vertrauenswürdigkeit und Glaubwürdigkeit der Kirche.“, so Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, bei der Kinderschutz-Konferenz „Der Schutz von Minderjährigen in der Kirche“ vom 21.–24. Februar 2019 im Vatikan.

Sowohl die Nachvollziehbarkeit von Vorgängen innerhalb der Kirche wie auch die Transparenz sind nur Mittel, um zu einem Ziel zu kommen. Für die Einen mag das Ziel „Kontrolle“ sein („wer Transparenz sagt, meint Kontrolle“), für Andere darüber hinausgehend Gerechtigkeit. Für viele Missbrauchs-Betroffene ist eben Letzteres entscheidend. Die Aussicht, dass ein Zustand von Gerechtigkeit wieder aufgebaut wird, lässt sie zur Kommission gehen, lässt sie vom Leid berichten, das ihnen widerfahren ist, vom Elend, das ihre Herkunftsfamilie erschüttert hat, von der Unmöglichkeit, ein normales Leben zu führen, von der Belastung der Partner*in, der Kinder und Enkel.

In vielen Gerichtsverhandlungen setzen die Opfer und deren Angehörigen darauf, dass die Gerechtigkeit ihnen wieder die Möglichkeit eröffnet, ein sinnhaftes Leben zu führen. Wenn wir ins Alte Testament schauen, dann spüren wir auch dort immer wieder den Anruf an Gott, dem Beter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Gerechtigkeit kann durch den Ausgleich „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ wieder hergestellt werden. So mancher finanzieller Täter-Opfer-Ausgleich beruht auf diesem Prinzip. Bei vielen anderen Fällen funktioniert dieses Prinzip nicht. Hier geht es den Opfern und Angehörigen zuerst darum, ein Schuldeingeständnis zu bekommen, vom Täter, von den Mitverantwortlichen. Ihnen ist es wichtig, dass Verantwortung übernommen wird, persönliche Verantwortung der Täterin/des Täters und institutionelle Verantwortung.

Betrachten wir den zweiten Teil der Aussage, die Selbstverständlichkeit, dass Veröffentlichtes nicht die „ganze Wahrheit“ beschreibt. Es kann auch gar nicht sein, weil sich Wahrheit nicht vollumfänglich beschreiben lässt.

Bei mir löst diese Aussage zwei Überlegungen aus:

die Wahrheit ist schlimmer als das Berichtete, sonst wäre eine Klarstellung ja ganz einfach möglich. Dies fordert wilde Gedankenspiele und Verschwörungstheorien heraus.

mein Gegenüber denkt, ich sei nicht „reif“ für die Wahrheit, also verschont er mich mit derselben. Dies macht aus mir ein Kind, das Gegenüber zum Erwachsenen, der mir nicht alles sagen kann oder will.

Nachvollziehen kann ich so überhaupt nichts, mir bleibt nur der Weg des „Glaubens“. Und der ist auch bei mir ziemlich erschüttert, seit ich den konkreten Umgang der Institution mit dem Komplex „Missbrauch“ gesehen habe.

Schuld (also verantwortlich) waren die 68-er, so Papst Benedikt XVI oder sogar der Teufel, folgt man der Überlegung Papst Franziskus. Also muss die Institution keine Verantwortung übernehmen.

Doch so einfach ist es nicht.

Schuld haben zunächst die Priester auf sich geladen, die Missbrauch begangen haben.

Verantwortlich sind aber auch diejenigen Bischöfe, die trotz vorgetragener Beschuldigung Priester einfach in eine andere Pfarrei versetzt und somit weiteren Missbrauch ermöglicht haben. Und diejenigen, die zum Schutz der Kirche die Staatsanwaltschaft nicht eingeschaltet haben, obwohl es konkrete Hinweise auf eine Tat gab.

Verantwortlich sind auch wir Katholiken, die geduldet haben und heute noch dulden, dass sich die Verantwortlichen nicht verantworten müssen. Als aufgeklärte, mündige, zur Freiheit berufene Christen ist es nicht Kür, nach Aufklärung, Nachvollziehbarkeit und Transparenz zu rufen, sondern eine „Christenpflicht“. Und Verantwortliche daran zu erinnern, dass sie sich ihrer persönlichen und institutionellen Verantwortung stellen müssen, keine Form von Nestbeschmutzung oder Illoyalität, sondern ebenfalls unsere Christenpflicht.

Um nochmal auf Kardinal Marx zurückzukommen. Wir wollen eine Kirche haben, die glaubwürdig und vertrauenswürdig ist. Daran müssen alle mitarbeiten, die sich Christen nennen. Auch wenn es schmerzhaft ist: manchmal brauchen Menschen kleine Schubser, die sie an ihre Verantwortung erinnern. Dabei schließe ich alle ein, auch Bischöfe, Kardinale und Päpste.

Karlheinz Heiss, Diözesanvorsitzender