nachdenken - März 2020

· Aktuelles

(Deutsche) Sonderwege

Wenn der Alltag nicht mehr greift, dann hat man das Gefühl, einen besonderen Weg gehen zu müssen. Menschen, die von jetzt auf nachher eine massive Veränderung ihres Gesundheitszustands erleiden, erleben das schmerzlich. Vor wenigen Tagen wurde berichtet, dass der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vom Hals ab gelähmt ist. Er beschreibt in eindringlichen Worten, wie er diese Veränderung erlebt.

Besondere Wege muss auch heute die Gesellschaft nehmen. Mit der Herausforderung einer Pandemie mussten wir rechnen, denn schon lange sagen uns Wissenschaftler eine solche voraus. Nehmen wir es positiv: das Erleben des Umgangs mit der möglichen Ansteckung durch den Corona-Virus kann eine Veränderung der Sicht auf unsere Gesellschaft mit sich bringen. Auf einmal wird uns bewusst, wie angewiesen wir auf die Pflegekräfte sind, die wir im Normalzustand der Gesellschaft so schlecht zahlen, dass sie sich schwer tun, eine Familie zu ernähren. Wir stehen an der Kasse im Supermarkt und wissen, wie dieses Dienstleistungsangebot Menschen, insbesondere Frauen, ausbeutet. Wir merken den Mangel an Kulturangeboten und dürfen hautnah erleben, wie ungeschützt im Normalfall ihre Arbeitsverhältnisse sind. Wir hören, dass viele Künstler immer mit dem finanziellen Rücken an der Wand agieren müssen und können uns erst jetzt vorstellen, was es bedeuten würde, wenn ihre Stimme, ihre Musik nicht mehr zu hören wäre.

Bundesländer gehen eigene Wege in unserem föderalen Staat. Wie sinnvoll sie sind, wenn andere Bundesländer das Vorpreschen imitieren oder ablehnen, wer kann dies einschätzen in einer Situation, die noch nie dagewesen ist. Zu früh – zu spät – gerade rechtzeitig, eine Beurteilung wird erst möglich sein, wenn wir Ausgangspunkt und Endpunkt miteinander vergleichen können.

Auch im kirchlichen Bereich gibt es diese Sonderwege: die bayerischen Diözesen haben Gottesdienste komplett abgesagt, die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat auf besondere Schutzmaßnahmen hingewiesen (mittlerweile deutschlandweit Gottesdienstverbot). Mein sonntäglicher Gottesdienstbesuch machte mir deutlich, wie seltsam und befremdlich sich Manches anspürt, wenn es das Gewohnte verlässt: der falsch herum aufgehängte Weihwasserkessel oder der Korb für das Geldopfer, der nicht mehr während der Opferung weitergegeben wird, sondern vor den Kirchenbänken steht.

Besonders beeindruckend fand ich den Hinweis auf „die Möglichkeit der Geistlichen Kommunion, bei der Gläubige, die aus irgendeinem Grund nicht die Kommunion empfangen können oder wollen, sich während der Kommunionspendung „im Gebet in besonderer Weise mit Jesus Christus verbinden“(Zitat Diözese Rottenburg-Stuttgart)“.

Spannend ist die Aussage „aus irgendeinem Grund“ sowie das „können“ und wollen“. Gilt das für alle Katholik*innen?, auch für wiederverheiratete Geschiedene und zivilrechtlich aus der Kirche ausgetretene Menschen? Beide können die Kommunion nicht empfangen, weil sie exkommuniziert sind.

Nein, beide Gruppen können auch nicht geistlich kommunizieren, weil „jeder, der hartnäckig an einer offensichtlich schweren Sünde festhält, nicht zur Kommunion zugelassen werden darf“. Also auch in Zeiten einer Pandemie gibt es für diese Menschen in Deutschland keinen Kommunionempfang, weder geistlich noch leibhaftig.

Bewusst gesetzt habe ich „in Deutschland“, denn es gibt auch einen deutschen Sonderweg im Bereich der katholischen Kirche (auch wenn immer alle Bischöfe nach Rom schauen und Sonderwege als absolut unmöglich kommunizieren).

Das Kirchensteuerrecht ist ein solch deutscher Sonderweg. Und er kann in seiner Auswirkung fast groteske Züge annehmen, weil sich darin zivilrechtliche und kirchenrechtliche Betrachtungsweisen mischen. In Erinnerung ist noch die gerichtliche Auseinandersetzung des Fußballers Luca Toni, Spieler bei FC Bayern. Ungeachtet der konkreten juristischen Betrachtungsweise ist kirchenrechtlich folgendes passiert: mit der Aufnahme einer Arbeit beim FC Bayern wurde der Italiener und Katholik kirchensteuerpflichtig. Durch die Ableistung dieser Pflicht (Streitwert waren knapp 2 Millionen Euro) durfte Toni auch in einem deutschen katholischen Gottesdienst die „leibhaftige Kommunion“ empfangen. Nach dem Gerichtsprozess wollte sich der Italiener der Kirchensteuerpflicht entledigen und ist zivilrechtlich aus der katholischen Kirche Deutschland ausgetreten. Damit war weder ein leibhaftiger noch ein geistlicher Kommunionempfang mehr möglich, denn mit dem zivilrechtlichen Akt (kostet 35 €) ist automatisch die Exkommunikation ausgesprochen - allerdings nur in Deutschland.

Als Katholik, der in München wohnt, hätte Toni etwa 80 km fahren müssen, um den deutschen eucharistischen Sperrbezirk zu verlassen und in Achenberg in Österreich die leibhaftige Kommunion zu empfangen. Für italienische Katholik*innen aus Gottmadingen lässt sich die Sperrzone mit einem kleinen Spaziergang in die Schweiz überwinden. Derzeit natürlich nicht, weil wir Corona-Sperrgebiet sind, aber hoffentlich wieder in wenigen Wochen.

Natürlich ist es wichtig, dass wir als Katholik*innen mit unserer von staatlicher Seite eingezogenen Kirchensteuer einen Solidarbeitrag für die Erledigung von Aufgaben unserer Kirche leisten. Der kleine Abstecher in die weite Welt kirchlicher Sondergebiete verdeutlicht aber, dass es mehr als fraglich ist, Kirchensteuerpflicht und Exkommunikation zu koppeln. Ich denke, dass viele zivilrechtlich ausgetretene Katholik*innen gerne einen freiwilligen Solidarbeitrag leisten würden, weil sie die Notwendigkeiten kirchlicher Einrichtungen sehen. Wen aber irgendwann einmal die Keule der Exkommunikation getroffen hat, die/der taugt nicht mehr zur Solidarität.

Unsere deutsche Kirche sollte sich genau überlegen, wie lange sie noch an diesem System der Beugestrafe für Kirchensteuerverweigerung festhält, denn genau das ist die Exkommunikation. Und sie sollte sich auf der anderen Seite genau überlegen, wie lange sie noch angemahnte Systemveränderungen in Deutschland mit dem Argument „Weltkirche“ abschmettert. Viele mitdenkende Katholiken sehen sehr wohl, wie immer wieder verschieden Maß genommen wird.

Corona zeigt, wie wichtig es ist, mit den Bürger*innen verantwortungsvoll und zu kommunizieren, sie in ihren Ängsten und Befürchtungen ernst zu nehmen, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

Genau das mahne ich auch für den Umgang Kleriker – Laien an. Das Machtgefälle, das wir alle in den 50-er Jahren gespürt haben, hat mit zu den scheußlichen (Über-)griffen von Klerikern geführt. Laien wurden mit „Priester tun so etwas nicht“ mundtot gemacht, wer dennoch auf einen Missbrauch aufmerksam gemacht hat, war gesellschaftlich geächtet. Davon müssen wir uns ein für alle Mal befreien. Augenhöhe hat nichts mit Respektlosigkeit zu tun, und Hinterfragen von Bequemlichkeiten und scheinbar gottgegebenen Strukturen ist zutiefst christlich. Imitatio Christi heißt für mich, der inneren Haltung Jesu offensichtlich zuwider laufende Handlungen zu hinterfragen und eine Veränderung anzumahnen.

Blicken wir noch einmal auf die Kirchensteuer: Beugehaft Exkommunikation für Kirchensteuerverweigerer und damit Ausschluss von der leibhaftigen oder geistlichen Kommunion, das gehört dringend hinterfragt!

Karlheinz Heiss, Diözesanvorsitzender